Auflösung
2019
Oft würde ich gerne in andere Menschen hineinblicken, für einen Augenblick Teil ihrer Welt werden. Wer sie sind, was sie fühlen und erleben. Im Laufe der Zeit lernen wir Menschen zwar immer besser kennen, wir lernen sie zu verstehen; schlussendlich aber werden wir nie mehr als einen Ausschnitt ihres Lebens kennen. Ein Ansatz zur Auflösung eines Geheimnisses – oder der Versuch eines Selbstporträts.
Es folgt ein Gedicht von Tadeusz Dabrowski.
Heute habe ich aus deinem Aktfoto ein Auge ausgewählt
und bis zum Rand des Bildschirms vergrößert, bis
zur äußersten Auflösung (und die ist so hoch,
dass man jetzt an dich glauben kann). Ich vergrößerte
dein rechtes Auge, im Wunsch, mit dem letzten Klick
auf die andere Seite zu springen, seine Seele anzuschauen
oder zumindest mich selbst, ganz zerklickt. Etwa
bei der vierundvierzigsten Vergrößerung
sah ich meine undeutlichen Konturen,
bei der sechsundsechzigsten den Umriss
des Fotoapparats, nur für mich zu erkennen. Und
dann nichts mehr außer grauen Rechtecken,
exakt angeordnet wie Ziegel in einer Mauer, wie
die Steine in der Klagemauer, vor der ich stehe
Tag und Nacht, um beharrlich die Fugen zu sprengen
mit den Zetteln meiner Gedichte.
(aus dem Polnischen übersetzt: Renate Schmidgall)